Scham und Bindungsverlust

Einführung in das gleichnamige Buch von Joseph J. Nicolosi

von Christl R. Vonholdt

Der kalifornische Psychotherapeut Dr. Joseph J. Nicolosi (1947 – 2017) hat mit weit über tausend Männern, die an ichdystoner Homosexualität litten, gearbeitet. Aufbauend auf den Erkenntnissen der Psychoanalyse (A. Freud, S. Radó, I. Bieber, C. Socarides), der Bindungsforschung (J. Bowlby) und seinen eigenen langjährigen Erfahrungen als Therapeut, stellt Nicolosi die These auf, dass es in der frühen Kindheit von Männern mit ichdystoner Homosexualität häufig zu tiefgreifenden Bindungsirritationen und Bindungsverletzungen in der Beziehung des Kindes zu seinem Vater und seiner Mutter gekommen ist. Diese frühen, äußerlich oft subtil ablaufenden Bindungstraumata1 führten dazu, dass der sensible Junge sein männliches Selbst nicht ausreichend und sicher entwickeln konnte. Homosexuelle Handlungen, so Nicolosi, sind bei vielen seiner Klienten ein Abwehrmechanismus gegen den Scham-Schmerz, der aus diesen Bindungstraumata und den Folgen für das Leben des Klienten resultiert.

In Anlehnung an psychoanalytische Erkenntnisse nennt Joseph Nicolosi den von ihm entwickelten, traumatherapeutisch ausgerichteten Therapieansatz „Reparative TherapyTM“ („wiederherstellende Therapie“), ein mittlerweile geschützter Begriff, der ausschließlich für diesen Therapieansatz verwendet werden darf. Er hat nichts mit sogenannten Konversionstherapien zu tun. Es geht um die Aufarbeitung empfundener Beschämung und die Wiederherstellung der Bindung – der Bindung des Klienten an sein eigenes wahres Selbst und seine eigene Männlichkeit.2 Um Klienten einen Weg für neue Bindungen zu öffnen, braucht es einen einfühlsamen, bindungsorientierten Therapeuten, der bereit ist, sich emotional immer wieder feinfühlig auf seine Klienten „einzustimmen“.

Im Zuge der Reparative TherapyTM geht es neben der Exploration und Bearbeitung von frühen Bindungstraumata um das Aufarbeiten möglicher weiterer Kindheits- und Jugendverletzungen, Missbrauchserfahrungen, Erfahrungen von Ausgrenzung, Schikane sowie um die Bearbeitung der Folgen, insbesondere in Bezug auf das Selbstbewusstsein, die innere „Schamhaltung“ und die aktuelle Beziehungsgestaltung des Klienten.

In den zahlreichen Therapieprotokollen stellt Nicolosi seinen Ansatz anschaulich und praxisorientiert vor.

Anmerkungen

1    Der Traumaforscher Colin Ross zeigt, dass auch Menschen, die in einer äußerlich unauffälligen Familie ohne physische Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch aufgewachsen sind, Symptomprofile eines Traumas aufweisen können: Depressionen, Ängste, posttraumatische Belastungsstörungen, Beziehungsschwierigkeiten und Störungen in Bezug auf das Selbst. Ross schreibt: „Ein Trauma kann subtil sein … Harsche Kritik, emotionale Abwesenheit, Perfektionismus mit Strafandrohung, Borderline-Double-Binds und andere Formen elterlichen Drucks … können sich durchaus traumatisch auf die Entwicklung auswirken.“ Ross, C.: The Trauma Model, Richardson TX, 2007, S. 186.

2    Dass es bei der Entstehung homosexuellen Verlangens um den Versuch eines Anschlusses an die psychische Männlichkeit geht, weil Männlichkeit für manche Jungen eine „exotische“ Ausstrahlung habe, ist auch die Auffassung einiger gay-affirmativer Therapeuten wie etwa Daryl Bem, der den Satz prägte: „Exotic becomes erotic“. Bem geht allerdings davon aus, dass dahinter eine normale, problemlose Identitätsvariante einiger Jungen steht. Nicolosi dagegen geht davon aus, dass es frühe Traumata sind, die beim Jungen zu einer unzureichenden Sicherheit in der Entwicklung seiner männlichen Identität geführt haben, dass also „die Sehnsucht nach der Männlichkeit da draußen“ immer mit psychischen Schmerzen verbunden ist.

Hier geht es zum ganzen Buch:

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