Bei dir zuhause, in mir zuhause

Bindung als Grundlage von Identität

Anderen ein Zuhause geben – also ein mütterlicher und väterlicher Mensch sein –, kann am besten, wer selbst ein Zuhause bei sich gefunden hat. Am leichtesten ist das für Menschen, die schon als Kleinkind bei ihrer Mutter ein Zuhause erfahren haben: ein Grundgefühl des Wohl-Seins („ich darf da sein, ich darf Raum einnehmen“), Geborgenheit, Sicherheit, Zugehörigkeit. In ­dieser beständigen, geborgenen An-Bindung kann das Kind entspannen und sein, kann es sein Selbst umfassend entfalten und wachsen. Der Mensch braucht das Du, um sein Selbst zu entwickeln, um Ich zu werden.

Frühkindliche Bindung

„Bindung“ meint zunächst die besondere Beziehung des Kindes zu seinen ­Eltern.  Um sein Selbst zu entwickeln, braucht das Kind eine „Bindungsperson“, eine Person, die „weiser und stärker“ ist als es selbst und die dem Kind psychische Sicherheit gibt. Sie gibt Fürsorge, Schutz, Wertschätzung, Trost, Unterstützung und behutsame Herausforderung. Das Bedürfnis nach Bindung ist angeboren und für ein Kind so lebensnotwendig wie das Bedürfnis nach Nahrung. Eine „sichere Bindung“ des Kindes an seine Eltern – in der Regel zuerst an die Mutter, dann an den Vater – ist ein wichtiges Fundament für seine weitere Entwicklung.

In der sicheren Bindung an Mutter und Vater lernt das Kind vertrauen: „Ich bin geborgen, ich werde gehalten. Ich werde berührt, also bin ich da. Es ist so gut, dass es mich gibt, ich bin geliebt, ich werde gehört und verstanden.“ Wenn alles gut geht, füllen die Eltern den inneren Raum des Kindes vorwiegend mit Daseinsfreude, Vertrauen und Liebe – eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass das Kind später anderen einen Raum zum Sein und zum Wachsen geben kann. Was die Eltern aus ihrem eigenen Selbst heraus geben, verinnerlicht das Kind. Was sich in der Verbundenheit zwischen Eltern und Kind abspielt, wird zu einem Teil im Kind: Freude, Unterstützung, Hilfe, Trost bei Versagen und Annehmen von Grenzen.

Damit ein Kind sich verstanden erlebt – und nur dadurch kann es lernen, auch sich selbst zu verstehen – müssen die Eltern die Gefühle und sozialen Signale des Kindes feinfühlig wahrnehmen und prompt und fürsorglich beantworten. Damit Bindung gelingt, müssen insbesondere Mutter und Säugling sich aufeinander „einstimmen“. Das ist wie bei einem gemeinsamen Tanz, der beiden Genuss bringt. Das Kind ist dabei ein aktiver Partner. Es nimmt wahr, unterscheidet, bevorzugt und lehnt ab.

Das kindliche Gehirn

Zum Zu-Hause-Sein gehört neben dem Vertrauen das Entspannen und Ruhen. Säuglinge möchten auch nach der Geburt noch am liebsten und häufigsten diejenige Stimme hören, die ihnen schon vor der Geburt vertraut war: die Stimme der Mutter. Da können sie am besten entspannen. Ein wesentlicher Teil von Bindung verläuft über Sprache: angesprochen werden, hören und antworten.

Entspannen und ruhen sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass sich das kindliche Gehirn gut entwickelt. In den ersten Lebensjahren ist die Gehirnentwicklung rasant: Im Alter von drei Jahren hat das Gehirn 90 Prozent seiner ­Erwachsenengröße erreicht und ein zweijähriges Kind hat mehr neuronale Verschaltungen als ein Erwachsener. Neben Blickkontakt zu Mutter und Vater (der Säugling sucht das Leuchten in ihren Augen) laufen viele frühe Entwicklungsprozesse über das Gehör. Bindung, Hören und Sprachentwicklung fördern sich gegenseitig. 

Ein kleines Kind ist noch nicht in der Lage, seine Gefühlszustände selbst zu regulieren. Es wird rasch von Gefühlen des Unwohlseins, des Hungers, der (Todes-)Angst des Alleingelassenseins und damit dem Nichts ausgeliefert zu sein, überflutet. Erlebt ein Kind weder wertschätzende Einfühlung noch Unterstützung, kann das unerträgliche Ängste, Wut und Trauer in ihm auslösen. Auch neue, unbekannte Situationen können ein Kind über­fordern. Zweijährige, so aktuelle Studien, brauchen mindestens so viel Nähe zur Mutter wie Einjährige.  Die mit den belastenden Gefühlen verbundene Erregung kann das Kind nicht steuern. Es braucht Mutter oder Vater als Bindungsperson, die es – auch durch ihre Stimme und Worte – beruhigen können.

Häufigste Ursache für ungesunden Stress beim Kind ist die Unterbrechung seines Bindungssystems: die wiederkehrende und zu frühe Trennung von der Mutter, die Nicht-Verfügbarkeit von Mutter (oder Vater), wenn das Kind sie braucht. Möglicherweise ist es auch eine Unfähigkeit der Eltern, die sozialen Signale des Kindes emotional aufzunehmen und feinfühlig zu ­beantworten, sodass sich das Kind dadurch in seinem Bindungsbedürfnis immer wieder abgelehnt fühlt. Wiederholte und längere Bindungsunterbrechungen können ein schwerwiegendes Trauma für ein Kind darstellen. Untersuchungen an Kleinkindern in ganztägiger Krippenbetreuung zeigen, dass viele von ihnen eine chronische Erhöhung ihrer Stresshormonspiegel aufweisen, und zwar auch bei qualitativ sehr guter außerhäuslicher Betreuung.

Die geistliche Dimension

Es gibt noch eine weitere und tiefere Dimension. Lange vor der Bindungsforschung bezeugt die Bibel, dass der Mensch Bindung braucht, dass er eine Bindungsperson braucht, die „stärker und weiser ist“ als er, dass der Mensch sein Ich über die Verbundenheit mit dem großen Du finden und entwickeln kann, dass das Bindungsbedürfnis dem Nahrungsbedürfnis gleichgestellt ist und dass Bindung wesentlich auch über Sprache ­geschieht, über angesprochen werden, hören und antworten. So heißt es beispielsweise in der Heiligen Schrift: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus dem Mund Gottes geht“ (5. Mose 8,3; Matthäus 4,4). Gott bietet dem Menschen Beziehung an, einen Bund. In der Verbundenheit mit ihm, in der Bindung an ihn, den Schöpfer und Erlöser seiner Schöpfung, findet der Mensch sein tiefstes Zuhause. Es ist ein großer Trost für viele, dass niemand bei dem stehen bleiben muss, was er in der Kinderzeit erlebt hat. Gott, der alles in allem war, hat sich zurückgenommen, um Raum für den Menschen (und die Schöpfung) zu schaffen, damit der Mensch da sein und wachsen kann. In einer viel tieferen Weise als Mutter oder Vater es können, hat Gott dem Menschen „etwas von seinem eigenen Selbst“ gegeben, etwas von sich selbst in ihn hineingelegt. Gott selbst will im Menschen wohnen. In einem englischen Gebet heißt es, dass Gott in dem Menschen, der sich ihm öffnet, sein „schönstes Zuhause“ hat („his homeliest home“), seinen „Ruheplatz“ („God’s resting place“), der es auch dem Menschen ermöglicht, zu entspannen und zur Ruhe zu kommen.

Wenn ein Mensch anfängt, sich immer wieder neu für diese Wirklichkeit zu öffnen, durch Lesen der Heiligen Schrift, in Gebet und Abendmahl, kann er allmählich entdecken, dass der Raum des „Zuhause“ bei ihm und in ihm wächst, dass allmählich Freude und Zuversicht wachsen und dass er irgendwann auch anderen – ohne selbst leer zu werden – ein Zuhause anbieten kann.