Beziehungsraum Mutterleib –

Einblick in die vorgeburtliche Entwicklung des Kindes

Christl R. Vonholdt

Von der Befruchtung an ist das ungeborene Kind auf Beziehung, Verbundenheit und auf Lernen angelegt und angewiesen. Sobald es Zellen gibt, sind sie lebendig, nehmen wahr, reagieren auf die Umwelt und üben schon Funktionen aus. Ohne Lernen gibt es keine Entwicklung, kein Überleben. Und nur in der Beziehung entwickelt sich das Kind, dabei ist viel weniger festgelegt, als man vermuten könnte.

Lange glaubte man, die vorgeburtliche Entwicklung sei vor allem genetisch gesteuert. Heute wissen wir, dass Gene nur Optionen bereitstellen. Was sich von diesen Optionen verwirklicht, hängt stark von der Umgebung des ungeborenen Kindes ab. „Das sich entwickelnde vorgeburtliche Kind ist ein lebendiges interaktives Wesen, das von der Empfängnis an durch seine mütterliche Umgebung beeinflusst wird.“ (Krens) Das Ungeborene lernt durch das, was aus seiner vorgeburtlichen Umwelt auf es eindringt, auch die einzelnen Zellen lernen von ihrer unmittelbaren Umgebung; dieses Lernen beeinflusst die Struktur- und Funktionsentwicklung des Gehirns; und das wiederum hat Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des Kindes.

Verbundenheit mit seiner Umgebung erlebt das vorgeburtliche Kind auf zahlreichen Wegen: Über die Sinnesorgane, durch die Nabelschnur (Plazenta), aber auch auf anderen, noch weniger erforschten Wegen.

Tastsinn, riechen und schmecken

Im Alter von etwa acht Wochen reagiert der Embryo (2,5 cm groß), wenn seine empfindlichen Lippen etwas berühren. Ab etwa dieser Zeit kann man bei ihm gezielte intentionale Bewegungen erkennen. Wenn Mutter oder Vater ihre Hand liebevoll auf den Bauch der Mutter legen, spürt das Kind diese Berührung und bewegt sich zuverlässig zu jener Seite, an der die Hand von außen aufliegt.

Auch ab etwa acht Wochen kann das Ungeborene riechen und das Fruchtwasser schmecken. Nach der Geburt erkennt das Kind seine Mutter am Duft der Muttermilch wieder. Auch ihre Brustwarzen riechen nach bestimmten Pheromonen, die schon im Fruchtwasser enthalten sind. Isst die Mutter viel Anis während der Schwangerschaft, bevorzugt das Kind auch nach der Geburt den Anisgeschmack. Legt man einem Neugeborenen zwei Stillvorlagen vor, auf der einen sind einige Tropfen Milch von der eigenen Mutter, auf der anderen ist Milch einer fremden Mutter, wendet sich das Neugeborene zuverlässig zur Stillvorlage mit der Milch der eigenen Mutter. Es weiß, wie die Mutter „schmeckt“. Die Sinneswahrnehmungen des Kindes sind auf eine vorgeburtlich-nachgeburtliche Verbundenheit angelegt. Das stärkt sein Vertrauen in die noch unbekannte, nachgeburtliche Welt: Alles ist in Ordnung, ich kenne mich aus. Ich weiß, wo es Nahrung gibt und deshalb kann ich leben. – Das Kind kann sich entspannen, sein kleines Gehirn kommt zur Ruhe – eine wichtige Voraussetzung für eine gute Gehirnentwicklung.

Hören und Schmerzempfinden

Das ungeborene Kind reagiert auf zahlreiche Geräusche; leise Töne scheint es zu genießen, bei lauten zieht es sich erschreckt zusammen oder strampelt wild. Es kann freundliche von aggressiven Stimmen unterscheiden. Der Pränatalforscher Thomas Verny zeigte Ultraschallaufnahmen eines Fötus im fünften Lebensmonat: Man sah deutlich, wie er plötzlich zusammenzuckte und sich in sich zusammenzog, als sich die Eltern stritten, ein Glas zerbrach und die Mutter laut aufschrie. (Alberti)

Intensiv nimmt das Ungeborene den Herzschlag der Mutter wahr: Klopft ihr Herz schnell, klopft seines auch schnell, beruhigt sie sich, kann das Kind auch entspannen. Neugeborene schreien weniger und schlafen besser, wenn man ihnen eine Tonaufnahme mit dem mütterlichen Herzschlag vorspielt. Vorgeburtlich hören Kinder die mütterliche Stimme nicht nur von außen, sondern auch über die Wirbelsäule und das Becken der Mutter. Dieses ist wie ein Resonanzkörper; es gerät bei genau jener Frequenz in Schwingung, die der Frequenz einer Frauenstimme entspricht.

Menschliche Stimmen sind nicht denkbar ohne das Mitschwingen von Stimmungen und Emotionen. Das Kind nimmt sie wahr, verarbeitet sie in seinem Gehirn und „übt“ sich in das menschliche Gefühlsleben ein. Wenn die Mutter lacht, bewegt sich Sekunden später das Ungeborene in ihrem Bauch. Neugeborene zeigen Freude und entspannen sich, wenn sie Melodien hören, die sie schon aus der vorgeburtlichen Zeit kennen.

Auch die Stimme des Vaters ist ihnen bereits vertraut, weil sie mit ihrer niedrigeren Frequenz als etwas von außen Kommendes vorgeburtlich gut wahrgenommen wird. Ebenso kommt der Vater in der Gedanken- und Gefühlswelt der Mutter vor – positiv oder negativ – beides überträgt sich auf das Kind. Wenn Paare schon während der Schwangerschaft ihr ungeborenes Kind in die gemeinsame Vorstellungs- und Beziehungswelt mit einbeziehen, geht es dem Kind später besser: Im Kleinkindalter kann es Konflikte effektiver und flexibler lösen und zeigt weniger aggressives Verhalten.

Das vorgeburtliche Schmerzempfinden ist bisher wenig erforscht. Sicher nachgewiesen ist: Wenn Föten im Alter von 19 Wochen einem schmerzhaften Eingriff ausgesetzt sind, etwa der Einführung einer Nadel für eine Bluttransfusion, produzieren sie Stresshormone. Wenn Kinder zwischen der 21. und 23. Schwangerschaftswoche abgetrieben werden, können sie hörbar schreien. (Hüther)

Plazenta und Nabelschnur

Die Nabelschnurverbindung zwischen Mutter und Kind existiert schon am 13. / 14. Tag nach der Befruchtung. Anfangs über das mütterliche Gewebe direkt, danach über die Nabelschnur gibt die Mutter ihr Wohlbefinden (z.B. über das Hormon Oxytocin), aber ungewollt auch ihren Stress an das Kind weiter. „Über die Nabelschnur ist der Fötus auch an das emotionale Erleben der Mutter angeschlossen. Gefühlszustände haben auch eine physiologische Basis: Sie zeigen sich z.B. in hormonellen Veränderungen im Blut, in der Qualität der Sauerstoffzufuhr und in den Veränderungen der Herzfrequenz. Wenn sich die Mutter ängstlich fühlt, werden vermehrt Stresshormone wie Adrenalin und Kortisol ausgeschüttet. (…) Alle Stresshormone überschreiten ohne Probleme die Plazentaschranke und stimulieren im Fötus die physiologische Reaktion auf genau dieses Gefühl von Angst und Furcht. Ob das Kind daraufhin Angst ‚erlebt‘, wissen wir nicht. Wenn man seine Reaktion im Ultraschall beobachtet, bekommt man allerdings den Eindruck, dass sein kleiner Körper in gewisser logischer Weise auf diesen ‚Angstreiz‘ reagiert.“ (Hüther)

Vorgeburtlicher Stress und Depressionen

Stress wird nicht nur durch äußere Lebensbedingungen verursacht (Hektik, chronischer Lärm, äußere Überlastungen), sondern auch durch „psychosoziale Reize sowie innere Denk- und Emotionsprozesse“ (Krens), etwa wenn finanzielle oder Beziehungsprobleme oder andere Faktoren die Mutter belasten. Stress bewirkt beim Kind normalerweise die Aktivierung seiner „Stressachse“, einer biologischen Abfolge verschiedener Eiweißstoffe im Gehirn und Körper. Nimmt der Stress überhand oder wird er chronisch, kann es zur Fehlregulierung oder zum Zusammenbruch der Stressachse kommen. In der Regel führt das beim Kind zu einer chronischen Übererregung, möglicherweise auch zu einer Starre. Übermäßige vorgeburtliche Belastungen zwingen das sich entwickelnde Gehirn zu funktionellen und strukturellen Anpassungen, wodurch auch im späteren Leben die Stressempfindlichkeit eines Menschen erhöht und Lernfähigkeit und Neugierverhalten beeinträchtigt sein kann. Die Stresshormone Kortisol und Adrenalin führen zudem zu einem Zusammenziehen der Blutgefäße, was die Sauerstoffzufuhr beim Kind beeinträchtigt und den fötalen Stress weiter erhöht.

Die Wege, auf denen sich die Mutter mitteilt, sind nicht nur hormonell, wie dieses Beispiel zeigt: Denkt eine rauchende Mutter an die nächste Zigarette, ohne sie zu rauchen, führt die Reaktion der Mutter zu einer unmittelbaren Stressreaktion beim Kind: Sein Herzschlag beschleunigt sich. (Geuter) „Trotz der methodischen Probleme, die die pränatale Stressforschung zu überwinden hat, gibt es eine überwältigende Anzahl von Daten, die konsistent darauf hindeuten, dass Stressoren während der Schwangerschaft Folgen für die weitere Entwicklung des Kindes haben.“  (Krens) Als mögliche Folgen werden in Studien genannt: erhöhte Erregbarkeit des Kindes, vermehrte Unruhe, Lernschwierigkeiten, geringere Anpassungsfähigkeit an äußere Umstände, psychische Probleme, psychische und motorische Entwicklungsverzögerungen, häufigere Ängste, Selbstregulationsstörungen.

Neugeborene von Müttern, die im letzten Drittel der Schwangerschaft depressiv waren, zeigen, genau wie ihre Mütter, die für Depressionen typischen physiologischen Veränderungen im Blut: erhöhtes Kortisol, erniedrigtes Dopamin. Das Ungeborene ist also schon mit dem Reaktionsmuster Depression vertraut. Das „droht Teil seiner körperlichen und emotionalen Welt zu werden und Einfluss darauf zu nehmen, wie das Kind später sowohl auf positive wie auch auf negative Umweltreize reagiert.“ Hüther) 

Weitere Verbindungen mit der Mutter

„In jeder bewussten Kontaktaufnahme mit dem Kind in ihrem Bauch kommen immer auch die Befindlichkeit und das Gefühl der Mutter ihm gegenüber zum Ausdruck: in der Art und Weise, wie sie sich und ihre Bewegungen und Aktivitäten auf die Anwesenheit des Kindes einstellt, ob und wie sie zu ihm oder über es spricht … ob und wie sie mit dem Kind in Kontakt tritt – direkt durch die Berührung der Bauchdecke oder gefühlsmäßig, indem sie ihre Aufmerksamkeit innerlich auf seine Anwesenheit und seine Befindlichkeit ausrichtet.“ (Hüther) Möchte die Mutter die Beziehungsaufnahme nicht, aus welchen Gründen auch immer, belastet das die Bindung zum Kind.

Mehr noch als bewusste Kontakte spielen wohl unbewusste Anteile in der Beziehung zwischen Mutter und Kind eine Rolle – Anteile, in denen Empfindungen, Gefühlszustände und vielleicht sogar Bilder und Vorstellungen kommuniziert werden. Thomas Verny geht, wie andere Pränatalforscher auch, davon aus, dass es eine „intuitive Kommunikation“ zwischen Mutter und Kind gibt: „Über einen intuitiven Weg teilt die Mutter ihre Gedanken, Vorhaben und viele ihrer Gefühle dem Kind mit und empfängt umgekehrt auf demselben Weg auch Botschaften vom Kind, häufig in Form von Träumen.“ (Krens) Diese Kommunikationswege sind bisher wenig erforscht. Möglicherweise spielen Spiegelhormone eine Rolle. Sie „stellen das neurobiologische Korrelat für die intuitive Wahrnehmung anderer Menschen und für intersubjektive Bezogenheit und Bindung dar. Sie sind schon direkt nach der Geburt in Funktion.“ Wenn „organismische Wahrnehmungs- und Bindungsprozesse“ schon vorgeburtlich wirken, können die Informationen, die das Kind auf diesen Wegen erreichen, möglicherweise einen prägenden Einfluss auf seine Entwicklung haben – im Positiven wie im Negativen. (Krens)

Die vorgeburtliche Entwicklung des Gehirns

Heute wissen wir, wie stark die Gehirnentwicklung des Kindes von vorgeburtlichen Erfahrungen abhängig ist. „Die vielfältigen Reize, die aus der Beziehung zwischen Mutter und Kind entstehen, bieten einen ständigen Strom von Lernerfahrungen, mit denen sich das Kind auseinandersetzt, indem es die im Gehirn erzeugten Erregungsmuster mit bereits angelegten Mustern zu verknüpfen und als neue Erfahrungen zu verankern sucht.“ (Hüther) Die Nervenzellen im Gehirn teilen sich, vermehren sich, lernen voneinander, bilden immer komplexere Netzwerke mit immer weiteren Verschaltungen. Strukturelle und funktionelle Entwicklung gehen Hand in Hand.

Das Grundprinzip der menschlichen Entwicklung ist die Zunahme der Komplexität. Der menschliche Organismus entwickelt sich nicht vom Niedrigen zum Höheren, sondern ist immer nur in einer Weiterentwicklung: Neues kann nur auf Altem aufbauen. Neues kann im Gehirn nur verankert werden, wenn es an Älteres anknüpfen kann. Strukturell gesehen: Von außen kommende Signale verursachen ein Erregungsmuster im Gehirn, eine „Unruhe“, die erst wieder zur Ruhe kommt, wenn das Neue verarbeitet ist, d.h. wenn es mit älteren Strukturen verbunden und in sie eingebettet ist. Auf der funktionellen Ebene bedeutet es für das Kind das Gefühl: Es ist gut. Ich habe etwas dazu gelernt. Ich bin dadurch gewachsen und reifer geworden. Das gibt mir Vertrauen und Sicherheit und macht Lust, weiter zu lernen. Lust, neue Erfahrungen zu machen und dazuzulernen, ist eine wesentliche Voraussetzung für Entwicklung. Diese Fähigkeit kann beeinträchtigt sein, wenn das ungeborene Kind mit belastenden Signalen überflutet wird. Die auf das Gehirn eindringenden Wahrnehmungen können dann „so fremd und übermächtig [sein], dass es im Gehirn des Kindes nicht gelingt, sie in irgendeiner Weise an das bereits vorhandene Wissen anzuknüpfen und in die bereits entwickelten Verschaltungsmuster zu integrieren.“ (Hüther) Das gilt besonders für heftige Angst- und Stressreaktionen aber auch für zahlreiche andere Stressoren wie große psychische Belastungen der Mutter, die beim Kind anbranden, oder Unterernährung oder Alkohol-, Nikotin- und Drogenkonsum der Mutter.

Die im Gehirn sich ausbreitende Unruhe kommt dann vielleicht nicht mehr zur Ruhe. Je nach Schwere der anbrandenden Stressoren und auch abhängig von der genetischen Ausstattung des Kindes gewöhnt sich das Kind entweder an die Störung oder kämpft immer wieder mit der Überforderung. Sein Gehirn wird dadurch aber etwas anders aufgebaut und die Verschaltungen etwas anders gelegt, als es ohne die Belastungen gewesen wäre. Es kann sein, dass es solchen Kindern im späteren Leben „nur schwer [gelingt], die für schwierige Wahrnehmungs- und Lernprozesse erforderlichen hochkomplexen Erregungsmuster in ihrem Gehirn aufzubauen und als neuronale und synaptische Verschaltungsmuster zu stabilisieren. Sie [die Kinder] sind verunsichert, ängstlich oder wütend und erleben nur selten das Gefühl, dass sie in der Lage sind, Probleme zu meistern und über sich hinauszuwachsen.“ (Hüther)

Möglicherweise ziehen sich die betroffenen Kinder später schneller zurück, haben mehr Ängste, sind weniger aufgeschlossen für neue Erfahrungen. Sie lassen sich emotional leichter oder schwerer erregen. Sind ihre Gehirn-Erregungsmuster stark verschoben, können sie durch „schwieriges Verhalten“ auffallen und müssen dann zusätzlich zu ihren vorgeburtlichen Lasten möglicherweise noch Ablehnung oder Zurückweisung von ihrem Umfeld verkraften. Wichtig ist aber auch: Jedes Kind reagiert nicht nur, sondern ist selbst aktiv und nimmt auf seine eigene Weise am vorgeburtlichen Beziehungsgeschehen teil. Es gibt niemals ein einfaches Ursache-Wirkung-Prinzip. Dazu ist menschliche Entwicklung zu komplex und viele Faktoren sind noch unbekannt. Im Einzelfall lässt sich deshalb auch nicht vorhersagen, wie sich bestimmte vorgeburtliche Belastungen auf ein Kind auswirken. Das Gute ist: Das Gehirn kann lebenslang hinzulernen. Wesentliche Strukturen im Vorderhirn sind erst im Alter von etwa 25 Jahren ausgereift, die funktionelle Entwicklung hält lebenslang an.

Erfahrungen aus der Therapie

Der Pränatalforscher Ludwig Janus stellte auf einem Kongress diesen Fall vor: Ein achtjähriger Junge litt Zeit seines Lebens an Erbrechen, ohne dass eine organische Ursache gefunden werden konnte. Er wurde deshalb an einen Psychotherapeuten verwiesen. In Bildern malte er immer wieder sich selbst schlafend auf dem Grund eines tiefen Brunnens. Durch Gespräche mit der Mutter und die Arbeit mit seinen Bildern stellte sich heraus, dass die Mutter versucht hatte, ihn mit einer giftigen Flüssigkeit abzutreiben, als sie im fünften Monat schwanger war. Danach entschied sie sich für das Kind und nahm liebevoll eine Beziehung zu ihm auf – die traumatische Erfahrung war im Jungen aber gespeichert und noch unverarbeitet. Nachdem er in der Therapie die Erfahrung verarbeiten konnte, hörte das Erbrechen auf. (Alberti)

Diesen Fall beschrieb die Psychotherapeutin Natascha Unfried: Ein siebenjähriger Junge kam in die Therapie, weil er unter schwerer sozialer Isolation litt. Weder mit den Adoptiveltern noch mit den gleichaltrigen Kindern konnte er eine Beziehung aufnehmen; er litt unter panischen Ängsten, dem Gefühl, wie tot zu sein und, wie sich dann in der Therapie herausstellte, unter einer unendlichen inneren Verlassenheit. Aus der Vorgeschichte ergab sich, dass die leibliche Mutter sich schon früh in der Schwangerschaft entschieden hatte, den Jungen nicht bei sich zu behalten. Es kam zu einer erschwerten und verlängerten Geburt, danach wurde das Kind gleich von der Mutter getrennt. Natascha Unfried geht davon aus, dass der Junge schon vor der Geburt einer Bindungsstörung ausgesetzt war, und mehrere traumatische Erfahrungen folgten: „pränatale emotionale Vernachlässigung, Geburtstrauma und postnatales Trennungstrauma“. In Abhängigkeit von den frühen Erfahrungen entwickelte das Gehirn des ungeborenen Kindes ein inneres Bild von der (Um-)Welt, wie sie gemacht ist, wie man mit ihr umgeht und mit ihr in Beziehung tritt. Vorgeburtliche Traumata führen dazu, dass sich das entwickelnde Gehirn verändert und die neuronalen Netzwerke so verschaltet werden, dass „verzerrte Bilder von der Welt und sich selbst“ entstehen. Zum Glück konnte der Junge durch die therapeutische Arbeit Schritt für Schritt seine innere Verlassenheit aufgeben und Beziehungen zu anderen aufnehmen.

Orientierung am Kind

Der Mensch wird nicht Mensch, sondern ist es von Anfang an. Seine körperliche, seelische und soziale Entwicklung sind nicht voneinander zu trennen, sondern bilden von der Befruchtung an eine komplexe Einheit. Macht es einen Unterschied, ob ein Kind in einer liebevollen Beziehung gezeugt wurde oder in einer kalten Laborschale, von Anfang an getrennt von Mutter und Vater? Macht es einen Unterschied, ob ein Kind in die Gebärmutter einer fremden Frau eingepflanzt wird, die sich keine Bindungsbeziehung zum Kind leisten kann? Macht es einen Unterschied, ob ein Kind nach der Geburt wieder eine Trennung erlebt? Jede Unterbrechung und Trennung in der frühen Lebenszeit, so Peter Fedor-Freybergh, ist ein negativer Stressmarker für das sich entwickelnde Gehirn, der sämtliche Entwicklungsprozesse negativ beeinflussen kann.

Die Auflösung des natürlichen Ehe-, Familien- und Elternbegriffs führt zu Unverbundenheit, Bindungslosigkeit, Verunsicherung oder sogar Nicht-Identität. Die vorgeburtliche empirische Forschung bestätigt, was wir aus der frühkindlichen Bindungsforschung wissen: Ein Kind braucht zuallererst Verbundenheit, Schutz und Sicherheit, Kontinuität und Bindung. Dies sind entscheidende Grundlagen dafür, dass es später Vertrauen ins Leben entwickeln kann.

Anmerkungen:

Diese leicht gekürzte Fassung erschien zuerst in: salzkorn 2-2022: https://www.ojc-salzkorn.de/produkt/salzkorn-2-2022/

Der ungekürzte Artikel mit ausführlicher Zitation erschien im DIJG Bulletin 23 (Leibliche Elternschaft – Relevanz und Bedeutung für das Kindeswohl); online: https://www.dijg.de/ehe-familie/bindung/mutterleib-vorgeburtliche-entwicklung/

Alberti, B.: Die Seele fühlt von Anfang an. München, 6. Aufl. 2012

Blechschmidt, E.: Sein und Werden. Stuttgart 1982

Fedor-Freybergh, P.: Die Schwangerschaft als erste ökologische Situation des Menschen. In: Janus, Ludwig u.a. (Hg): Seelisches Erleben vor und während der Geburt. Neu-Isenburg 1997, S. 15f.

Ders.: Continuity and indivisibility of integrated psychological, spiritual and somatic life processes. http://www.scienzaespirito.it/files/img_serv/sanmarino/Prof_Freyberg.pdf

Geuter, U.: Im Mutterleib lernen wir die Melodie unseres Lebens. In: Psychologie heute 2003, Heft 1, S. 20-26

Hüther, G. u. I. Krens: Das Geheimnis der ersten neun Monate – Unsere frühesten Prägungen. Beltz, Weinheim, 4. Auflage 2011.

Janus, L.: Der Seelenraum des Ungeborenen. Ostfildern, 4. Aufl. 2013.

Krens, I. u. H. Krens: Beziehungsraum Mutterleib. In: Krens, I. und Krens, H.: Risikofaktor Mutterleib. Göttingen 2006

Unfried, N.: Pränatale Traumata und ihre Bearbeitung in der Kindertherapie. In: Krens u. Krens: Risikofaktor Mutterleib. A.a.O., S. 188-204